Hannes Leitlein: Frau Jens, Ihr Mann, Walter Jens, erkrankte zehn Jahre vor seinem Tod an Demenz. Sie entschieden sich, ihn zu Hause zu pflegen. Wäre es nicht besser gewesen, ihn einem Pflegeheim anzuvertrauen?
Inge Jens: Ohne Hilfe wäre ich dazu gezwungen gewesen. Ich hätte schon körperlich die Pflege nicht leisten können. Mein Mann ist beispielsweise nachts des Öfteren aus dem Bett gestiegen und hat sich auf den Boden gesetzt. Ich konnte ihn nicht bewegen, aufzustehen. Selbst sehr dünne und schwache Menschen können sehr schwer sein. Ich bin also auf die Straße gegangen und habe nachgesehen, wo in der Nachbarschaft noch Licht brennt, und mir dort dann Hilfe geholt. Später fand ich durch Zufall eine wunderbare Pflegerin. Frau H., die ich kurz vor seiner Erkrankung als Putzkraft engagiert hatte, erwies sich als Genie auf dem Gebiet der Pflege. Ein Geschenk des Himmels! Anfangs sollte sie nur zweimal wöchentlich kommen, am Ende hat sie mit ihrem Freund bei uns gewohnt und meinen Mann bis zu seinem Tode gepflegt. Aber natürlich hätte ich diese häusliche Pflege nicht bezahlen können, wären unsere zwei letzten Bücher keine Bestseller geworden.
Sie beschreiben in Ihrem Buch Langsames Entschwinden sehr eindrücklich, wie Sie Ihren Mann einmal in eine Klinik bringen mussten.
Er musste an einem Zeh operiert werden, keine große Geschichte. Aber die Tübinger Uniklinik war überhaupt nicht auf demente Patienten eingestellt, obwohl sie ihre neue Demenzstation gerade mit viel Stolz anpries. Was sich jedoch dort abspielte, war ein einziger Skandal: Eine nette Stationshilfe stellte ein Set Essen und Trinken auf den Nachttisch meines Mannes, sagte: „Lassen Sie es sich schmecken“ und ging. Eine Stunde später kam sie zurück und nahm das Tablett wieder mit, ohne zu kontrollieren, ob der Patient überhaupt etwas gegessen hatte. Frau H. ist dann auch über Nacht bei meinem Mann geblieben. Die Klinik hatte darum gebeten. Er wäre sonst verhungert, ohne dass es jemand bemerkt hätte.
Wäre das im Pflegeheim anders?
Das wäre in einer Pflegeeinrichtung nicht passiert. Die hätten seine Ausfälle mitbekommen. Im Krankenhaus jedoch gab es ja noch nicht mal einen Mixer, um ihm das Essen klein zu machen. Jemanden dort zu lassen käme fast einer Sterbehilfe gleich. Auf jeden Fall zeugte es von großer Ahnungslosigkeit. Eine reizende Schwester, die immer freundlich auf meinen Mann einsprach, fragte mich eines Tages, ob er taub sei, weil er auf Ansprache gelegentlich überhaupt nicht oder aber „falsch“ reagierte. Sie hat nicht gemerkt, dass er dement ist. Auf der Demenzstation! – Nun ist aber natürlich auch Pflegeheim nicht gleich Pflegeheim. Und Demenz nicht gleich Demenz. Die Unterschiede sind riesig. Bei meinem Mann verlief die Krankheit sehr schnell und ungewöhnlich zerstörerisch. Walter Jens wurde innerhalb von Wochen zu einem anderen Menschen.
Frage: Wie hat die Krankheit Ihren Mann verändert?
Mein Mann hatte eine Sonderform der Demenz, eine sogenannte Angiopathie. Er verlor in kürzester Zeit seine Sprache und damit jede Möglichkeit der normalen Art der Verständigung. Forderungen und Bedürfnisse machte er gestisch klar; wir lernten, sie zu verstehen und ihnen, so weit möglich, gerecht zu werden. Es entwickelten sich neue Formen des Umgangs und der Verständigung. Wenn seine Pflegerin etwa sagte: „Herr Jens, jetzt sind Sie artig, dann bekommen Sie nachher auch Ihr Leberkäsweckle“, war ihm das ein Begriff. Auf diesen Satz sprach er an, damit verband er etwas. Frau H. besaß einen Bauernhof bei Tübingen, zu dem sie meinen Mann oft mitnahm. Auf dem Weg fuhren sie dann bei einem Metzger vorbei, und Walter bekam sein Leberkäsweckle.
Eine ganz schön raue Umgebung für einen Professor, so ein Bauernhof, oder?
In einer Weise: ja. Für ihn ein Dorado. Auf dem Hof lebten auch ein paar geistig behinderte Jungen. Mit denen verstand sich mein Mann prima. Die gingen rau, aber herzlich mit ihm um. Das verstand er. Wenn er mal wieder den Rest des Glases Wasser, aus dem er gerade getrunken hatte, mit großer Geste über den Tisch schüttete, stand einer der Jungs auf, sagte: „Herr Jens, Sie sind ein Schwein!“, holte einen Lappen und wischte das Wasser auf. Und mein Mann saß vergnügt dabei und schaute interessiert zu. Von den Jungs wusste ja keiner, was ein Professor war. Walter war eben „Herr Jens“, und der war halt gelegentlich seltsam, weil er irgendwie krank war.
Glauben Sie, es war Zufall, dass Ihr Mann ausgerechnet die Sprache verloren hat und nicht etwa die Fähigkeit, sich zu bewegen?
Das gehörte offenbar zur „Dramaturgie“ seines Lebens. Sein ganzes Dasein war durch das Bedürfnis nach Information und Wissen bestimmt und auf die Vermittlung des Erfahrenen angelegt. Als die Krankheit an seine persönliche Substanz ging, musste es als Erstes an die Sprache gehen. Walter Jens war ein Mann, der aus, von und mit der Sprache lebte. Sie war das wichtigste Instrument seines Lebens und sie wurde ihm innerhalb weniger Wochen genommen. Ich merkte, er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht mehr. Seine Ausdrucksmöglichkeiten lagen auf der allerprimitivsten Ebene. Er verlor die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, und sehr bald auch die, zu sprechen. – Aber er begann, mit Lust Kaninchen zu füttern, schob ihnen eine Mohrrübe durch den Maschendraht, weil es ihm Spaß machte, wenn das Kaninchen anfing zu nagen. Eine Zielvorstellung seines Handelns war noch gegeben, aber eben auf einem sehr konkreten Niveau und reduziert auf den Augenblick. Einmal kam ich zu ihm, da hatte er einen ganzen Korb junger Welpen, die er mit Begeisterung kraulte. Dabei fand er Tiere früher schrecklich. Er war natürlich zu klug, um Angst vor Welpen zu haben, aber er wäre vor seiner Erkrankung nicht freiwillig auf sie zugegangen – nun haben sie ihn glücklich gemacht. Manche Mitmenschen haben mir sehr verübelt, dass ich den Herrn Professor auf einen Bauernhof brachte. Wenn es ihm aber doch Spaß machte, warum sollte ich ihn abhalten? Sein Lebenswerk konnte sich doch sehen lassen, obwohl es abgebrochen wurde.
War es noch möglich, auf emotionaler Ebene zu kommunizieren?
Nicht immer, wie ich es gern gehabt hätte. Wenn ich ihm meine Zuneigung zeigen wollte, ihn streichelte, und er darauf keine Lust hatte, dann bekam ich auch mal eine gescheuert. Wenn er etwas wollte und wir ihn nicht verstanden, war er nicht wählerisch. Dann boxte er um sich, das gab auch mal blaue Flecken. Er wusste ja nicht mehr, was er tat. Er handelte instinktiv, ohne seinem Tun irgendwelche zivilisatorischen Schranken aufzuerlegen.
Sie selbst haben nie Aggression ihm gegenüber verspürt?
Es war zu offensichtlich, dass er aus Verzweiflung handelte. Das war nie verletzend. Er war mir ja auch schon lange kein intellektuelles Gegenüber mehr und wusste auch nicht mehr, dass ich seine Frau bin.
Aber Sie wussten es doch noch.
Ich wusste es noch, aber das war für ihn ohne Belang. Er war zum Schluss mit Frau H. mindestens so vertraut wie mit mir. Sie hat für ihn gesorgt. Und er hat sie dafür geliebt. Und sie ihn auch – im schönsten Sinne, ohne jedes Beiwerk.
Groß, dass Sie das nach so vielen Jahren der Ehe sagen können.
Ja, das ist sehr schön. Dafür bin ich auch sehr dankbar. Frau H. war immer sehr korrekt. Als mein Mann anfing, ihr gelegentlich liebevoll und dankbar die Hand zu streicheln, hat sie mir etwas beschämt davon erzählt. War es schön?, habe ich sie gefragt. Ja, sagte sie. Na, dann ist doch alles in Ordnung. Dann freuen Sie sich beide!, habe ich geantwortet. Wir hatten und haben ein wunderbares Verhältnis miteinander.
Würden Sie empfehlen, als Paar oder auch alleine im Alter rechtzeitig in eine Pflegeeinrichtung zu ziehen?
Nicht, solange Sie nicht pflegebedürftig sind. Sie brauchen eine Umgebung, die Sie fordert. Das ist ganz wichtig. Sonst werden Sie träge, der Sessel ist bequem.
Aber man will ja auch niemandem zur Last fallen.
Ich würde mich vorbereiten. Die Heime brauchen auch immer etwas Zeit. Sie bekommen nicht von heute auf morgen ein Zimmer oder gar eine Wohnung im betreuten Wohnen. Sie sollten rechtzeitig überlegen, was Sie wollen. Mir war wichtig, weiterhin ein Arbeitszimmer zu haben. Aber wenn ich das Gefühl habe, das Leben allein wohnend nicht mehr bewältigen zu können, bin ich vorbereitet. Es gibt ja auch viele Zwischenstufen: Ich könnte etwa die Diakonie bitten, morgens mit mir zu duschen. Je länger Sie aber alles alleine schaffen, desto mehr bleiben Sie in Übung.
Mit Ihrem Mann schon vor zehn Jahren in eine Einrichtung zu ziehen wäre verfrüht gewesen?
Es wäre vermutlich kaum möglich gewesen, stand durch die Präsenz von Frau H. gottlob auch niemals zur Diskussion. Als mein Mann dann starb und ich plötzlich alleine in dem Acht-Zimmer-Haus war, wusste ich: Hier willst du nicht bleiben. Du verkaufst, so schnell es geht. Das Haus hatte seinen Sinn als unser gemeinsamer Lebensraum. Den hatte es mit dem Tod meines Mannes verloren. Was soll ich alleine mit acht Zimmern? Da wäre ich nur melancholisch geworden. Meine drei Zimmer hier kann ich ausfüllen.
Warum ein Haus nicht früher verkaufen?
Weil wir immer viele Gäste hatten. Und als mein Mann dann krank wurde, wollte ich ihm die vertraute Umgebung erhalten. Verkauft hätte ich nur im äußersten Notfall, etwa, wenn die Bank mir keinen Kredit mehr gegeben hätte. So eine Pflege ist natürlich irre teuer, das zahlt keine Kasse.
Sollte die Krankenkasse die häusliche Pflege bezahlen?
Sie sollte jedenfalls mehr bezahlen und sie könnte etwas genauer hingucken, an wen und wofür sie was zahlt. Es ist in der Zwischenzeit glücklicherweise besser geworden, auch die Kassen lernen dazu. Demenz als Krankheit war damals ein völlig neues Problem. Man wusste gar nicht, wie abrechnen. Liegt der Patient im Bett oder nicht?, war die Frage. Nun, inzwischen ist die Krankheit anerkannt.
Warum misst die Gesellschaft der Pflege so wenig Bedeutung zu?
Sie misst ihr schon unendlich viel mehr Bedeutung zu als vor zehn Jahren. Heute werden sehr viele Leute alt, 80 Jahre und älter. Sie alle brauchen Hilfe. Und sie können noch klar genug denken, um ihre Vorstellung zu artikulieren. Und manche sind sogar in der Lage, von sich zu abstrahieren und das zu propagieren, was allgemein verbindlich ist. Denn natürlich hat jeder seinen eigenen Lebensstil, auf den Rücksicht zu nehmen für die Allgemeinheit sehr schwer und nur mit viel gutem Willen und Sachkenntnis möglich ist.
Die Gesellschaft wird immer älter. Kann sie sich leisten, alle zu pflegen?
Sie wird nicht gefragt werden, sie kann die Leute ja nicht umbringen. Das wäre die Alternative: Mit 80 oder bei einem bestimmten körperlichen Zustand bekommen alle eine Kapsel. Denkbar ist das, aber gottlob nicht vorstell- oder gar realisierbar.
Und glauben Sie, die Gesellschaft schafft es, alle zu pflegen?
Sie wird es schaffen müssen, weil alle betroffen sind – vom Bundespräsidenten bis zur Putzfrau.
Und haben Sie Verständnis für Alte, die sich an ihr Zuhause klammern?
Verständnis dafür habe ich, aber auch alte Menschen müssen lernen! Solange ich die Biografie nicht kenne, steht mir natürlich kein Urteil zu. Ich wäre aber sehr viel anspruchsvoller bei jemandem, der ein gutes, erfülltes und glückliches Leben gehabt hat. – Ich will aber auch meine Kinder nicht aus ihrem Leben reißen. Es mag Zeiten gegeben haben, da war das so. Aber die Menschen wurden auch nicht so alt. Sie waren mit 60 tot. Und entsprechend jünger waren die Pflegenden. – Der Schritt ins Heim ist gar nicht so schlimm. Es hilft nicht, an dem festzuhalten, was man aufgeben muss. Die Frage ist vielmehr: Was brauche ich noch, um so lang wie irgend möglich unabhängig und freundlich als soziales Wesen zu leben?
Ist das ganze Leben eine Vorbereitung auf das Sterben?
Nein, sicher nicht. Für mich noch nicht einmal jetzt. Ich denke natürlich über das Sterben nach. Wann sollte ich auch damit anfangen, wenn nicht mit 90? Irgendwann wird es ja mal Zeit. Man muss sich auf das Alter vorbereiten. Das Abbauen müssen Sie ebenso planen wie das Aufbauen. Das Leben kann jederzeit zu Ende sein, noch drei Tage dauern oder drei Jahre. Sie sollten sich also zumindest so einrichten, dass Sie noch drei möglichst gute Jahre haben könnten.
Sie haben keine Angst vor dem Tod?
Das weiß ich nicht, theoretisch nein. Wie es in actu aussehen wird, kann ich nicht sagen.
Bei Ihrem Mann scheint sich das Verhältnis zum Tod durch die Demenz stark verändert zu haben.
Gegen Ende hatte er gar kein Bewusstsein mehr davon, was Tod ist.
Er war Protestant bis auf die Knochen, wie Sie schreiben. Das Leiden gehörte für ihn zum Leben. Gilt das auch für Sie?
Mein Glaube wurde vom Leiden und dem Tod meines Mannes nicht tangiert. Damit musste ich mich viel früher befassen. Wenn einer mit 90 stirbt, fragen Sie eigentlich nicht mehr, warum. Die Demenz eines 80-Jährigen aber ist etwas, das Sie herausfordert – auch in ihrem Senkrechtverhältnis. Wenn ein Intellektueller mit Ende 70 die Fähigkeit verliert, zu denken, und ihm das Vermögen abhandenkommt, sich als denkendes und intellektuelles Wesen darzustellen, zu behaupten, zu leben, dann ist das lebensverändernd. Als mein Mann nicht mehr reden konnte, war sein bisheriges Leben zu Ende. Aber es ist ihm vergönnt gewesen – und davon bin ich überzeugt –, noch mal ein anderes Leben anzufangen. Was er auf dem Bauernhof erlebt hat, war von ebenso großer Intensität wie das, was er als Wissenschaftler erfahren hatte.
Die Demenz und das Dementi sind sich sprachlich nah. Hat die Krankheit sein vorheriges Leben widerrufen?
Nein, dafür fehlte die bewusste Komponente. Zu einem Widerruf gehört ein Bewusstseinsvorgang oder Bewusstseinsakt. Der war bei meinem Mann nicht vorhanden. Das „alte Leben“ war entschwunden, das „neue Leben“ folgte anderen Gesetzen.
Sie sagen, dass er „ein anderer“ geworden sei. Ist da ein neuer Mensch geboren oder ein alter gestorben?
Am 9. Juni 2013 ist ein alter Mensch gestorben, der im Laufe eines sehr langen Lebens durch Krankheit am Ende ein anderer geworden war. Trotzdem war auch der neue nur – oder immer noch – Walter Jens, der seinen eigenen, nur ihm – von wem oder was immer – bestimmten Tod starb. Äußerlich hatte er sich wenig verändert. Er war leicht zu erkennen, aber er war eindeutig ein völlig anderer geworden, ein Mensch, der plötzlich ganz andere Qualitäten zeigte, aus ganz anderen Reservoiren schöpfte und sich an ganz anderen Dingen freute. Für mich war er natürlich seit Jahren kein Partner mehr. Aber er war eben der, dem ich versprochen hatte, bei ihm zu bleiben, „bis der Tod euch scheidet“. Das hätte ich auch nicht anders gewollt. Das wollte ich nicht rückgängig machen. Niemals. Walter Jens war mein Mann bis zu dem Moment, in dem er physisch starb.