Juli 2014
Am 29. Juli 2014 sollte es so weit sein. Emmanuel sollte endlich mitkommen. Nach Deutschland. Er sollte Lenas Heimat kennenlernen. Ihre Eltern, ihre Familie und ihre Freunde – ihr Leben vor Ghana. Fünf Jahre kannten sie sich, über drei Jahre waren sie ein Paar. Emmanuel sollte Sauerkraut schmecken, Fachwerk bestaunen und Mischwald riechen. Sie buchten einen Flug von Accra nach Düsseldorf und beantragten in der deutschen Botschaft ein Visum. Vier Tage später wurde Emmanuels Antrag mit einer Begründung abgelehnt, die jährlich Tausende Afrikaner erreicht: „Ihr Rückreisewille kann nicht sichergestellt werden.“ Hat Deutschland Angst vorm schwarzen Mann?
Als weiße Europäerin bekommt Lena jederzeit ein Visum für Ghana. Deutsche leben ihr Recht auf Reisefreiheit auch sehr selbstverständlich aus. 2014 waren über neun Millionen Bundesbürger außerhalb Europas im Urlaub. Umgekehrt aber verwehrt Deutschland dieses Recht Tausenden. Etwas mehr als zwei Millionen Visa wurden 2014 in deutschen Botschaften weltweit beantragt. 118.084 wurden abgelehnt. Das entspricht einer durchschnittlichen Ablehnungsquote von 6,2 Prozent. In Ghana liegt sie bei 47 Prozent.
Für Emmanuel ist es nahezu unmöglich, nach Deutschland zu reisen. Ghana gehört einer Statistik der Europäischen Kommission zufolge zu den Ländern mit der höchsten Ablehnungsquote. Die deutsche Botschaft in Accra genehmigt nur etwa jedes dritte Visum für den Schengenraum. Auffällig an der Statistik: Die ersten zehn Länder auf der Liste liegen größtenteils in Afrika. Nur aus Syrien, Afghanistan und Haiti werden ähnlich viele Anträge abgelehnt. Dabei herrscht in Ghana kein Krieg. Die Menschen dort wollen das Land nicht verlassen. Stattdessen flüchten viele aus den umliegenden Ländern nach Ghana. Das Land in Westafrika gilt im Vergleich zu seinen Nachbarländern als erfolgreich und wohlhabend. Von 2002 bis 2013 hat sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 312 auf 1.858 US-Dollar versechsfacht. Deutschland hat das Land sogar als sicheres Drittland eingestuft. Sollte es dann nicht möglich sein, ein Besuchs- oder Touristenvisum zu bekommen? Warum verweigert Deutschland Menschen wie Emmanuel die Einreise?
Lena und Emmanuel wussten, dass es nicht einfach werden würde. „Ich liebe einen schwarzen Mann aus Afrika, der nicht das große Geld verdient“, sagt Lena. Sie wussten, dass man ihrer Liebe misstrauen und Emmanuel unterstellen würde, er wolle auf diesem Weg versuchen, in das deutsche Sozialsystem einzudringen. Er würde Lena nur ausnutzen und sie – wäre er erst einmal in Deutschland – sitzen lassen, untertauchen und irgendwann mit falscher Identität Asyl beantragen. Dieser Vorwurf galt bereits, als die Menschen noch nicht zu Hunderttausenden nach Deutschland flüchteten. Dabei wollte Emmanuel nicht in Deutschland bleiben. Er wollte auch kein Asyl beantragen. Warum auch? Sie wollten gemeinsam zurück nach Ghana, nach Kumasi, in ihre kleine gemeinsame Wohnung, die sie sich zusammen eingerichtet hatten. Sie wollten zurück zu den Kindern im Heim, in dem sie beide arbeiteten. All das würde die Sachbearbeiterin in der deutschen Botschaft überzeugen, da waren sie sicher. Erst recht die Bürgschaft, die Lenas Vater übernommen hat, für den Fall, dass Emmanuel doch untertaucht. Eine Summe, die er nie hätte bezahlen können: eine halbe Million Euro.
„Dein Geburtsort bestimmt, wie mobil du sein darfst“, sagt die Wissenschaftlerin Maybritt Jill Alpes. Sie erforscht, wie sich die Migrationspolitik auf die Betroffenen auswirkt. „In den Botschaften herrscht ein grundsätzliches Misstrauen“, sagt sie. Die Unterstellung, dass die Antragsteller Hintergedanken hegten, schwinge in den Gesprächen immer mit. Die Prozesse seien langwierig und kompliziert. Dass das Verfahren rassistisch ist, will Alpes so pauschal nicht behaupten. Ein französisches Paar, das sie begleitet hat, habe sich während der Familienzusammenführung scheiden lassen – seine Beziehung hielt dem Druck nicht stand.
„Sicher gibt es einzelne Botschaftsangestellte, die bei der Vergabe von Visa auch Ängste vor Aids laut werden lassen“, sagt die Migrationsforscherin. Das Problem liege aber auf struktureller Ebene: Die Botschaftsmitarbeiter stünden unter zeitlichem Druck, der Stereotype mobilisiere. Sie seien wirtschaftlich selbst oft nicht besonders gut abgesichert. Viele seien nicht im diplomatischen Dienst, sondern mit lokalen Verträgen angestellt. „Manche sehen sich deshalb auch als Verteidiger des europäischen Sozialsystems“, sagt Alpes. Um ihre eigene Absicherung nicht zu gefährden, lehnten sie die Bewerber im Zweifel ab.
Die ungewohnte Atmosphäre mache die Antragsteller zusätzlich nervös: Es gebe eine Klimaanlage, alles sei sehr sauber und förmlich. Von den nicht nachvollziehbaren Entscheidungen hänge die Zukunft der Antragsteller ab. „So angespannt, wie ich die Menschen erlebt habe, war ich selbst nur bei der Verteidigung meiner Dissertation“, sagt Alpes. „Und da ging es nur um einen Karriereschritt, nicht um meinen ganzen weiteren Lebensverlauf!“
Viele Dokumente, die der Visumsantrag voraussetzt, müssten erst organisiert werden. Manche wüssten nicht einmal ihr Geburtsdatum. Die Systeme und auch die Prioritäten seien zu unterschiedlich und an vielen Stellen nicht kompatibel. „Das Verfahren zwingt die Antragsteller, pragmatisch und strategisch vorzugehen“, sagt Alpes.
Sie hält die Migrationspolitik der Bundesregierung für unehrlich. „Es gibt großen Bedarf an Arbeitskräften in der Kinder- und Altenpflege, gleichzeitig aber können etwa Kameruner aktuell de facto keine Langzeitvisa bekommen, wenn sie zum Beispiel als Au-pair nach Deutschland kommen wollen“, sagt sie. Mit einem speziellen Pflege-Visum könnte dieser Bedarf ihrer Meinung nach gedeckt und das Misstrauen gegenüber Besuchern und Touristen abgebaut werden.
„Mein Vater hätte sein Leben für Emmanuel ruiniert, obwohl er ihn noch nie gesehen hat“, sagt Lena. Emmanuel und Lena versuchten herauszufinden, warum ihr Antrag abgelehnt wurde. Doch der Ghanaer am Schalter konnte ihnen nicht weiterhelfen. Er empfahl, es ein weiteres Mal zu versuchen. Sie fragten, was sie am Antrag verändern sollten, damit sich ihre Chance erhöht. Er wusste es nicht. Ein deutscher Kollege fragte: „Warum kommt deine Familie nicht einfach nach Ghana?“
Juli 2009
Lena zog es im Juli 2009 das erste Mal an die Goldküste. Mit „Weltwärts“ kam sie für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Das Programm der Bundesregierung entsendet jährlich Tausende junger Schulabgänger in den globalen Süden und damit meist in ehemalige Kolonien. Der östliche Teil des heutigen Ghana etwa war von 1884 bis 1919 „Schutzgebiet“ des Deutschen Kaiserreichs. Für die meisten, ob aus dem Süden oder Norden, bleibt der Auslandseinsatz eine Erfahrung, die sich gut im Lebenslauf macht. Andere schließen Freundschaften, bauen eine intensive Beziehung zum Land auf oder verlieben sich – wie Lena und Emmanuel.
Sie lernten sich in einem Wohndorf für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit geistigen und Mehrfach-Behinderungen kennen. Emmanuel arbeitete dort, Lena kam als Freiwillige. Nach eineinhalb Jahren ging sie zurück nach Deutschland. Doch sie kam wieder. Viermal für ein paar Wochen. Im April 2013 dann ganz: Sie nahm einen Job bei einer ghanaisch-dänischen Organisation in Kumasi an, bei der auch Emmanuel seit 2012 arbeitete.
April 2013
Seither leben Emmanuel und Lena zusammen in ihrer kleinen Wohnung, teilen etwa 25 Quadratmeter, eine kleine Küche, ein Schlafzimmer, ein Bad. Jeden Morgen gingen sie zusammen zur Arbeit. Bis zum 3. Juni, dem Tag, an dem das Heim von drei bewaffneten Männern überfallen wurde. Die Männer nahmen alles, was sie fanden: Laptops, Handys, etwa 1.000 Euro und eine Sprite aus dem Kühlschrank. Dann vergingen sie sich an den zwei Frauen, die im Heim wohnen. Lena und Emmanuel mussten zusehen, wie die Frauen in ihrer Obhut vergewaltigt wurden. Auch Lena wollten die Männer zum Sex zwingen. „Aber ich konnte nicht“, sagt Lena. Sie war wie gelähmt. Immer wieder sagte sie zu den Männern: Ich kann nicht. Da ließen sie von ihr ab.
Emmanuel und Lena hatten wenig Hoffnung, dass der Überfall die Behörden umstimmt, doch sie gingen in Revision und baten, ihre besondere Situation zu berücksichtigen. Sie ergänzten ihren Antrag um Briefe deutscher Freunde, die bereits in Ghana zu Besuch waren, und um die Flugtickets von Lenas Eltern, die im November zu Besuch nach Ghana kommen wollten. Sie ergänzten Lenas Reisepass und sie schrieb einige Zeilen, wie sie sich kennenlernten, wie sie lebten und dass sie sich lieben. „Unsere Liebesgeschichte in Amtsdeutsch aufzuschreiben fühlte sich so bizarr an!“, sagt Lena. Die Organisation, für die sie beide arbeiteten, ergänzte einen Brief, in dem sie betonten, dass Emmanuel unersetzlich ist. Die Taufe des Sohnes von Freunden in Deutschland sollte während ihres Aufenthaltes stattfinden. Emmanuel sollte sein Pate werden. Auch die offizielle Einladung der Kirchengemeinde fügten sie dem Antrag hinzu. Alles, um Emmanuels Rückreisewillen zu beweisen, an dem aus ihrer Sicht kein Zweifel bestand. Wieder fuhr Emmanuel nach Accra. Dieses Mal fand kein Gespräch statt. Er übergab einer Botschaftsangestellten die Unterlagen und fuhr zurück.
Juli 2014
Lena und Emmanuel fingen an, ihre Koffer zu packen. Am 22. Juli, eine Woche vor ihrem Flug, erreichte sie per Brief die zweite Absage der Botschaft. Sechs Seiten legten in bestem Behördendeutsch die Entscheidungsfindung dar. Der Brief liegt Christ&Welt vor. „Eine ausreichende familiäre und wirtschaftliche Verwurzelung konnte nicht nachgewiesen werden. Sie gaben an, ledig zu sein. Kinder haben Sie keine“, steht da. Oder: „Die Vorlage des Mietvertrages ist für sich genommen noch kein Nachweis dafür, dass sie tatsächlich in dieser Wohnung leben.“ Kurz: kein Visum für Emmanuel. Wieder flog Lena alleine nach Deutschland.
Der Ablehnungsbescheid ist namentlich unterschrieben. Der Sachbearbeiter lässt sich im Internet ohne Weiteres identifizieren: Es handelt sich um einen 25-jährigen Mann aus Nordrhein-Westfalen, der selbst noch vor wenigen Jahren mit Weltwärts im Auslandseinsatz war. Nach seinem Studium in Berlin ging er nach Ghana, um dort für die deutsche Botschaft zu arbeiten. Für ein Gespräch steht er nicht bereit. Zu gern würde man erfahren, wie ein 25-Jähriger, der selbst gerne verreist, Emmanuels Ablehnung abseits von bürokratischen Floskeln und vorformulierten Formularen begründet.
Auch das Auswärtige Amt gibt keine Auskunft zur Visapolitik der Bundesrepublik. Anfragen werden teils über Wochen und auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht beantwortet, und selbst die Informationen, die mit dem Zusatz „aus dem Auswärtigen Amt heißt es“ veröffentlicht werden dürften, sind unbrauchbar. Aus einer Stellungnahme der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion geht jedoch hervor, dass 2013 von der Bundespolizei insgesamt lediglich 6.750 Personen – also etwa 0,003 Prozent der Antragsteller – mit abgelaufener Aufenthaltsgenehmigung festgestellt wurden. Sie stammen überwiegend aus der Türkei, Russland und China. Die Unterstellung, Menschen aus Ghana und den anderen Ländern mit hoher Ablehnungsquote würden nicht zurückkehren, ist unbegründet. Die Linke moniert außerdem: „Für Paare besteht keine Möglichkeit, sich in Deutschland näher kennenzulernen, bevor sie heiraten.“
November 2014
Lena und Emmanuel gaben sich am 10. November 2014 in Kumasi ihr Jawort. Lenas Eltern waren extra angereist. Zwei Monate später, am 14. Januar 2015, erkannte auch Deutschland ihre Ehe offiziell als rechtmäßig an. Ein Visum war Emmanuel trotzdem noch nicht sicher. Drei weitere Monate vergingen. Am 14. März schrieb Emmanuel seine Deutschklausur. Eineinhalb Wochen später erreichte ihn das Ergebnis: bestanden. Wieder ein Grund weniger für die Botschaft, ihm ein Visum zu verweigern. Am 26. März brachte er den dritten Antrag zur Botschaft. Wieder wurde Emmanuels Antrag abgelehnt. Lena und er waren am Ende ihrer Kräfte. „Wie kann die Information unserer Ehe, die Einladung zu einer Hochzeit und der Wunsch, gemeinsam mein Heimatland zu besuchen, unglaubwürdig sein?“, fragt Lena.
Unter Tränen konnte Lena eine Botschaftsangestellte dazu bewegen, im Computer nach den Gründen zu sehen. Der Hauptgrund: Er könne keine finanzielle Sicherheit nachweisen. Wieder hatte die Verpflichtungserklärung nichts genützt. Es würde außerdem ein Sprachnachweis fehlen. Dabei hatte Emmanuel sein A1-Zertifikat des Goethe-Instituts beigelegt. Note: „gut“. Die Angestellte empfahl, den Mietvertrag nachzureichen. Auch der war bereits Teil des Antrags. Die Frau, die ihren Namen nicht verraten wollte, hat die Verzweiflung der beiden gesehen. Lena und Emmanuel sollten erneut in Berufung gehen, sagte sie. Sie würde unter der Hand mit dem zuständigen Sachbearbeiter reden, könne aber nichts versprechen.
April 2015
Am 9. April saßen Lena und Emmanuel wieder im Bus, um die Unterlagen nach Accra zu bringen. An der Rezeption saß ein Angestellter, den sie schon kannten. Er rief eine Kollegin an. Am Telefon nannte er sie Caro. Sie sagte, er solle die Unterlagen zu ihr bringen. „Sie hören in den nächsten acht Wochen von uns“, sagte er. Am 16. April, fast ein Jahr nach dem ersten Antrag, war es so weit: „WIR HABEN DAS VISUM!!!!!!!“, schreibt Lena per SMS an ihre Freunde in Deutschland. Caro, vermuten Lena und Emmanuel, hat sich für sie eingesetzt. „Es brauchte nur einen Menschen mit Herz, der die Kriterien zu unseren Gunsten auslegt“, sagt Emmanuel. Und ein wenig Willkür.